Vor dem Skandal. Faktoren für die Skandalisierung

Vor dem Skandal. Faktoren für die Skandalisierung

Organisatoren
Joachim Werz / Ernst Henning Hahn, Goethe Universität Frankfurt am Main
Ort
hybrid (Frankfurt am Main)
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.11.2020 - 29.11.2020
Url der Konferenzwebsite
Von
Maximilian Röll, Forschungsstelle Ordensgeschichte seit der Frühen Neuzeit

Auf der Tagung widmeten sich die Referent:innen und Teilnehmer:innen der historischen Skandalforschung. Organisiert wurde die von der Fritz Thyssen Stiftung geförderte Tagung von Joachim Werz und Ernst Henning Hahn. Zentrale Fragestellung war es, welche Bedingungen in einem wahrgenommenen Missstand erfüllt sein müssen, damit ein Fehlverhalten oder ein Missstand zu einem Skandal wird. Die Tagung fand hybrid an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main statt und wurde über YouTube live gestreamt.

Den Auftakt der Tagung machte die Keynote von HANS MATTHIAS KEPPLINGER (Mainz), der sich in seiner Keynote-Speech anhand zahlreicher Beispiele aus den vergangenen Jahrzehnten der Frage widmete, welche Aspekte bei der Skandalforschung relevant sind: Erstens: Skandale werden durch Medien ausgelöst. In diesen Skandalen sind Medien aber nicht neutrale Berichterstatter, sondern sie nehmen Partei. Dabei ist es für die Beschreibung des Skandals gleichgültig, ob die Medien sachlich zutreffend oder unzutreffend berichten. Zweitens: Zur Untersuchung eines Skandales ist die Recherche nach Materialien zum Thema jenseits des Skandals notwendig, insoweit ein Skandal häufig die meisten der, zu diesem Thema berichtenden, Medien erfasst. Drittens: Im Rahmen der Untersuchung sollten die Motive aller Beteiligter bezweifelt werden. Ein Skandal ist stets mit einer emotionalen Aufladung verbunden. Alle Akteure eines Skandales werden hierdurch beeinflusst.

ERNST HENNING HAHN (Tübingen) fragte: „Ab wann ist Skandal?“ Dabei lieferte Hahn bewusst keine Antwort, sondern entwickelte Perspektiven, unter denen diese Frage beantwortet werden kann. Zunächst nahm der Referent den Dreischritt der grundlegenden Skandal-Entwicklung vor: Einer tut, einer sagt und einer empört sich. Die Grundlage des Skandals ist also die Empörung. Wie entsteht diese aber? Wesentlich geht es dabei um Normativität: Ein Skandal entsteht, indem eine Norm übertreten wird. Dabei geht es nicht um eine formalrechtliche Geltung der Norm. Vielmehr muss ihr von einer möglichst großen oder relevanten Gruppe ein möglichst hoher Wert zugesprochen werden. Es sind sodann diese Akteure, die sich empören. Entsprechend empfahl Hahn für die Untersuchung von Skandalen akteurszentrierte Analysemodelle. Er las den Skandalbegriff zudem phänomenorientiert, das heißt, er warb dafür, auch gescheiterte Skandale in den Blick zu nehmen.

Der Kommunikationswissenschaftler ANDRÉ HALLER (Kufstein) hielt einen Vortrag über intendierte Selbstskandalisierung als Marketingstrategie. Durch die medialen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte ist es zunehmend schwieriger, für ein Produkt oder ein Anliegen Aufmerksamkeit zu erzeugen. Es gibt nicht nur immer mehr Kanäle, in denen das Produkt platziert werden kann, sondern auch die Nutzergruppen und ihre Erwartungen differenzieren sich zunehmend aus. So wird Aufmerksamkeit „nicht nur ein knappes, sondern vor allem heterogenes Gut“. Klassische Produktpräsentationen haben daher zunehmend die Schwierigkeit, sowohl medial von den Gate-Keepern wie von den Endkunden wahrgenommen zu werden. In diesem Kontext ist die intendierte Selbstskandalisierung durch provokative Werbeinhalte ein Instrument, Aufmerksamkeit zu erzeugen.

Der Psychologe HANNES KÖNIG (Berlin) widmete sich der psychologischen Dimension von Skandalen und nutzte hierfür den Begriff der Belle indifférence. Diese von Sigmund Freud entwickelte Formulierung der schönen Gleichgültigkeit geht davon aus, dass man etwas hinnimmt – etwa eine assoziative Störung –, um eine als bedrohlich empfundene Situation zu vermeiden. Von dort her leitete König zu einem wesentlichen Aspekt des Skandals über, nämlich, dass die Verhältnisse, die durch den Skandal zur Sprache kommen, vorher schon vorhanden und gleichgültig mitgetragen werden. Dies beschrieb König als „eine eigentümliche, unterschwellig aufgeladene Stimmung der Verdrängung“. Es gilt: Je ausgeprägter die Empörung im Falle des Skandals, umso mehr ist diese mit Verdrängung unterfüttert.

Historikerin ANNIKA KLEIN (Frankfurt am Main) stellte den Fall Sklarz in den Mittelpunkt. Sie ging der Frage nach, wie die Korruption als skandalträchtiges Phänomen mit der demokratischen Staatsordnung verbunden ist. Klein skizzierte die Genese des Falles: Sklarz, der politisch der MSPD zuzurechnen ist, wurden von einem ehemaligen Mitarbeiter unpräzise Korruptionsvorwürfe gemacht, die sich im Wesentlichen auf seine Verbindungen mit der damaligen sozialdemokratischen Regierungsspitze bezogen haben sollen. Diese Vorwürfe sind zunächst innerparteilich bearbeitet worden, später aber von den Medien anderer politischer Richtungen aufgenommen und verselbstständigten sich schließlich in einem von den Rechten entworfenen Topos des Rattenkönigs – einer durch Korruption verbundenen Gruppe. So entstand ein etabliertes Narrativ, das besonders von der rechten Presse aufgegriffen wurde, um den linken Parteien Korruption zu unterstellen, obwohl der Fall selbst keine unmittelbaren Folgen hatte.

JULIA WESTENDORFF (Frankfurt am Main) widmete sich der heiklen Verbindung von Kirche und Geld. Westendorff sah dabei die Institution vor einem grundsätzlichen Problem: Der hohe moralische Anspruch, der gegenüber der Kirche erhoben wird, schließt auch ihr finanzielles Gebaren ein. Das Verhältnis zum Geld ist ein per se problematisches: Wie kann Kirche reich sein, wenn Jesus arm war? Hinzu kommt eine institutionelle Dissonanz: Während einige Gliederungen vor Ort etwa auf ehrenamtliche Mitarbeit angewiesen sind, um rudimentäre Aufgaben zu erfüllen, werden an der Spitze mancher Bistümer große Summen für Neubauten oder Gehälter verausgabt. Ein weiteres Problem ist die institutionelle Intransparenz: Wo das Geld aus der Kirchensteuer genau hinfließt, ist der Öffentlichkeit nicht klar. Das ist auch verbunden mit der Strukturfrage: Die Entscheidungen über den Einsatz der Mittel obliegen im Wesentlichen Personen, die nicht demokratisch legitimiert sind, sondern hierarchisch eingesetzt wurden.

JOACHIM WERZ (Frankfurt am Main) ging auf das Hofheimer Messfestivals ein. In der Bafile-Affäre wollte Nuntius Corrado Bafile, sekundiert durch konservative Kreise im Bistum Limburg, im Jahr 1973 den damaligen Bischof Wilhelm Kempf durch Rom zum Rücktritt drängen. Die Gruppen, die in der Bafile-Affäre aktiv wurden, formierten sich laut Werz schon zuvor. Ihren ersten Auftritt hatten sie im Hofheimer Messfestival 1971. Während dieses Ereignisses fand in der Hofheimer Pfarrkirche St. Bonifatius ein Jugendtreffen samt Messe statt, in der neue Formen gottesdienstlichen Feierns und kirchlichen Miteinanders erprobt wurden. Daraufhin wurde durch einen konservativen Kreis um Pfarrer Hans Milch (Hattersheim) ein medialer und innerkirchlicher Protest orchestriert. Bischof Kempf griff ein und beruhigte in verschiedenen Dialogprozessen die Situation. Dieses, aus Sicht der damals sichtbar gewordenen konservativen Kreise, ungenügende Vorgehen bildete einen Grund für die spätere Bafile-Affäre, einem Skandal im bundesrepublikanischen Katholizismus.

LAEED ZAGLAHMI (Algier) weitete die Perspektive durch Beispiele aus Algerien auf internationale Skandale. Er sah eine Verbindung zwischen dem Charakter des politischen Systems und den Skandalen, die aus diesem System hervorgehen. Dabei gehe es vor allem darum, wie frei die Presse sei, um über etwas potenziell Skandalträchtiges zu berichten. Ein weiterer Faktor ist die Haltung der jeweiligen Gesellschaft und die Probleme, die sie zu bewältigen hat. So ist die algerische Gesellschaft laut Zaglahmi eher konservativ; Skandale gehen daher von der Empörung über sexuelle, religiöse und kriminelle Verfehlungen aus. Einen weiteren Schwerpunkt bilden ökonomische und finanzielle Skandale. Dabei sind Skandale zum einen häufig mit der Regierung verwoben, auf der anderen Seite ebenso häufig wirkungslos: Die Personen der politischen Elite können sich trotz des Skandals auf ihrem Posten halten. Diese zahlreichen Skandalfelder führen dazu, dass die algerische Gesellschaft quasi an den Skandal gewohnt sei.

Historiker HEINER MÖLLERS (Potsdam) ging in seinem Beitrag auf ein Skandal-Exemplum in der Bundeswehr ein, nämlich die Affäre Kießling. Er beschrieb, wie dem damaligen Bundesverteidigungsminister Wörner der Versuch misslang, den stellvertretenden NATO-Oberbefehlshaber Europa Günter Kießling in den vorzeitigen Ruhestand zu versetzen. Aufgrund der angeblich homosexuellen Orientierung Kießlings wurde dieser als „Sicherheitsrisiko“ für die Bundeswehr eingestuft. Er einigte sich 1883 mit Wörner auf eine Krankmeldung und sagte zu, im März 1984 in den vorzeitigen Ruhestand zu gehen. Nachdem der Minister auf Drängen seines Staatssekretärs das Eintreten in den Ruhestand auf Ende 1883 vorgezogen hatte, beantragte Kießling Ende des Jahres ein Disziplinarverfahren gegen sich selbst. Nachdem der Fall in die Öffentlichkeit gelangte, konnte Wörner den Schritt nicht hinreichend begründen. Zudem wurde in der Öffentlichkeit wie auch im Parlament der Zusammenhang von Homosexualität und Sicherheitsrisiko in Frage gestellt. Daraufhin wurde Kießling wieder in den Dienst zurückversetzt und Ende 1984 ehrenvoll in den Ruhestand versetzt. Das Rücktrittsgesuch Wörners wurde durch Bundeskanzler Kohl ausgeschlagen.

Die Musikwissenschaftlerin ANNA SCHÜRMER (Halle an der Saale) blickte auf den Faktor der Krise, die einem Skandal vorausgeht. Krise wird dabei als häufig pathologischewiederkehrender oder dauerhafter Zustand verstanden. Schürmer ging davon aus, dass Skandale Ausnahmezustände sind, die krisenhafte Ausgangszustände offenbaren und die enthaltenen gesellschaftlichen Energien entladen würden. Der Skandal ist damit in der wissenschaftlichen Operationalisierung Marker der Krise, der Einblick und Zugriff auf das Ausgangsphänomen erlaubt. Entsprechend sind Krisenzeiten nach Schürmer besonders skandalanfällig. Schürmer wies darauf hin, dass Krisen nicht nur negative Auswirkungen haben, sondern auch eine produktive Dimension in sich tragen.

Kommunikationswissenschaftler HENDRIK MICHAEL (Bamberg) behandelte in seinem Vortrag das Verhältnis des Journalismus zum Skandal. Dafür untersuchte er sowohl die Produktions- und Verarbeitungsmechanismen des Journalismus in Skandalen und analysierte die Entwicklung des Journalismus im 19. und 20. Jahrhundert. Michael stellte dabei eine steigende Tendenz der Medien zur Skandalisierung seit den 1980er-Jahren fest und führte dies auf den Kommerzialisierungsschub in dieser Zeit zurück. Dabei machte er zwei Zielrichtungen des Skandals aus: Die Skandalisierung von strukturellen Problemen oder von individuellem Fehlverhalten. Letztere schrieb er den verstärkt kommerziellen Medien zu. In diesem Zusammenhang werden laut seinem Befund zunehmend Mittel der Dramaturgie und des Storytellings genutzt, um den Skandal zu personalisieren und zu emotionalisieren, auch wenn strukturelle Probleme aufgedeckt werden sollen. Der traditionelle Investigativjournalismus erarbeite dagegen die relevanteren Aspekte der Skandale.

Der Pressesprecher WAHID SAMIMY (Bonn) ging auf die Krise im Politikbetrieb zwischen übertriebenem Drama, medialem Orkus und echter Berichterstattung auf die Rolle von Kommunikationsverantwortlichen und ihrer Arbeit in Krisensituationen ein. Die wesentliche Herausforderung sei es, im Skandalfall schnell die richtigen Worte zu finden, um nicht den Einfluss auf die Nachrichtenlage zu verlieren. Die Situation werde noch dadurch erschwert, dass häufig die Entscheiderebene erstarrt sei und die vorhandenen Informationen eine präzise Beurteilung der Lage nicht zulassen. Dann folgt optimal ein kommunikativer Dreisprung: Ein erster Schritt ist das Bedauern über das Geschehen. In einem zweiten Schritt erfolgt eine „offensive Bereitwilligkeits- und Willfährigkeitsgeste“, wozu vorrangig Demut gegenüber den Verletzten gehört. Der dritte Schritt bestätigt sodann die beiden vorgenannten, indem eine praktische Handlung im Sinne der vorherigen Ankündigungen erfolgt.

In der Abschlussdiskussion gingen die Veranstalter Hahn und Werz noch einmal auf das Verhältnis der Teilöffentlichkeiten zu Skandalen ein: Welche Dimension muss sowohl ein Skandalpotenzial als auch eine Öffentlichkeit haben, damit es zu einem Skandal kommt? Zugleich verwiesen die beiden Veranstalter auf mögliche Interdependenzen zwischen Skandalogie und Ansätzen, wie sie etwa auf dem Tübinger FSB „Bedrohte Ordnungen“ erforscht werden. Skandale können demnach Marker für bestehende oder sich neu etablierende Ordnungsmodelle sein. Des Weiteren wurde auch auf die Frage hingewiesen, wie sich durch die medialen Entwicklungen, gerade mit Blick auf die Social Media, die Handlungsmuster der medialen Akteure verändert hat. Zuletzt hoben die beiden Veranstalter den Gewinn hervor, der durch ein zweifaches Gespräch entsteht: Zum ersten dem Austausch verschiedener wissenschaftlicher und institutioneller Ansätze und Perspektiven; zum zweiten dem Gespräch zwischen theoretischen Ansätzen und deren in der Praxis arbeitenden Akteuren.

Konferenzübersicht:

Keynote

Hans Matthkepplias Kepplinger (Mainz): Ursachen und Auslöser von Skandalen.

Sektion I: Mechanismen und Strategien vor dem Skandal

Ernst Henning Hahn (Tübingen): „Ab wann ist ein Skandal?“

André Haller (Kufstein): Intendierte Selbstskandalisierung

Sektion II: Emotion, Moral, Norm und Geschichte – Einflussreiche Faktoren

Hannes König (Berlin): Belle indifference

Annika Klein (Frankfurt am Main): Korruption – die Schwester von Demokratie und Parlamentarismus?

Julia Westendorff (Frankfurt am Main): Die Kirche und das liebe Geld

Joachim Werz (Frankfurt am Main): Ein Vor der Bafile-Affäre im Bistum Limburg

Laeed Zaglahmi (Algier): Scandals characteristics, values and norms in Algeria

Heiner Möllers (Postdam): Die Bundeswehr-Affäre

Sektion III: Journalistisch-mediale Faktoren

Anna Schürmer (Halle an der Saale): Eklatantes Apriori

Hendrik Michael (Bamberg): Merkmale und Rahmenbedingungen von Medienskandalen in unterschiedlichen journalistischen Berichterstattungsmustern

Wahid Samimy (Bonn): Mediale Skandalisierung – die Krise im Politikbetrieb zwischen übertriebenem Drama, medialem Orkus und echter Berichterstattung